Text für den Verkündigungsteil der ThomasMesse am 24.02.2002
Im St. Petri Dom zu Bremen
Mk 14, 10+11, 17-20
Verraten und verkauft! Welch ein Thema!
Judas! Welch eine schillernde Figur, welche aufreizende Tat, aber auch: welche reizvolle Herausforderung!
Ehrlich gesagt: wir haben uns in der Vorbereitung schwer getan mit diesem Judas Ischarioth und seiner Geschichte. Sollen wir uns dem aussetzen? Ist diese Geschichte nicht viel zu niederdrückend? Zu schrecklich?
Und dann haben wir gemerkt: er lässt uns aber nicht wieder los - der Judas. Wir haben uns gefragt: Was hat Judas mit uns zu tun? Und wir haben angefangen, die Texte zu lesen - die so voller Spannungen und Widersprüchen sind - und damit auch unsere eigenen Widersprüchlichkeiten widerspiegeln.
Einer von den Zwölfen - heißt es. Jesus wollte ihn bei sich haben. Er hat die gleichen Entbehrungen wie Jesus geteilt: Oft ohne Dach über dem Kopf durch Galiläa gewandert, ohne großartigen Besitz. Einer von den Zwölfen. Einer aus dem engsten Kreis. Jesus vertraute ihm. Ihm hat er die Kasse anvertraut. Noch bei der Verhaftung nennt Jesus ihn "meinen Freund". Was für eine Freundschaft, was für eine Liebe!
Und dann die fast unerträgliche Geschichte: Judas überliefert Jesus in die Hände seiner Henker. Er verrät seine große Liebe: Jesus!
Warum nur? Warum?
Weil es eben so sein musste? Die Antwort hilft nun wirklich nicht weiter!
Tat er es aus Geldgier? Sicher nicht! Dreißig Silberlinge hat er erhalten -nicht eben viel. Einen Acker hat er sich davon kaufen wollen - so heißt es an einer Stelle. Der hat nicht groß sein können.
Tat er es, um Jesus zu zwingen, endlich die Führung im Kampf gegen die gehassten Besatzer, die Römer, zu übernehmen? Vielleicht! Vielleicht hatte er es satt, dem sanften verständnisvollen und immer barmherzigen Jesus zu folgen. Hatte er nicht schon protestiert, als Jesus sich von einer Frau mit teuerem Öl die Füße salben ließ? Hatte er nicht darauf hingewiesen, wie viel Armen man hätte helfen können mit dem Geld? Musste angesichts all des Elends und der Ungerechtigkeit nicht endlich Schluss sein mit Barmherzigkeit und das Schwert ausgepackt werden? Ein wenig können wir ihn vielleicht verstehen und entdecken, wie auch wir manchmal tief in uns so fühlen und denken
Oder tat er es, um endlich der ganzen Sache überhaupt ein Ende zu setzen? Wenn Jesus verhaftet würde, gar dem Tod geweiht - müsste Gott dann nicht dreinschlagen und das Ende der Zeiten herbeiführen - und damit ein neues Zeitalter, in dem Gerechtigkeit und Friede sich küssen?
Wir können es nicht mehr ergründen, warum Judas es tat. Aber wir dürfen es uns nicht zu einfach machen mit ihm!
Was haben sie ihm nicht alles unterstellt in der Geschichte der Kirche, was haben sie mit ihm gemacht: zum Verräter gestempelt, zum Teufel höchstpersönlich, zum verschlagenen Verbrecher, zum Juden schlechthin, als Begründung für Judenhass und -verfolgung - unglaublich, schrecklich, zum Schämen, zum Weinen.
Zum Sündenbock für alles Mögliche und Unmögliche wurde er gemacht. Und Menschen über viele Generationen haben sich ihn so vom Leibe gehalten, eigene Widersprüche und Schuldverstrickung, eigenen Verrat auf ihm abgeladen, auf ihn geschoben und verdrängt. Und alles, um sich bloß nicht der Frage auszusetzen: "Bin ich es, Herr?"
Nein - das hat Judas nicht verdient.
Denn er ist ein Mensch wie wir und kein Ungeheuer! Ein Mann mit Gefühlen und kein grausamer Verbrecher! So sehr er sich verirrt und verstrickt hat in seinen Träumen und Sehnsüchten, so sehr bereut er seine Tat: "Ich habe Unrecht getan, dass ich unschuldiges Blut verraten habe!" so sagt er den Hohepriestern, als sie Jesus zum Tod verurteilen.
Er bereut!
Das erhebt ihn trotz seiner schrecklichen Tat weit über alle uneinsichtigen, verblendeten Hitlers und Milosevics!
Das macht es mir nun auch möglich, Judas nun doch näher an mich heran zu lassen und zu fragen: Herr, bin ich es? Begehe auch ich Verrat? Übrigens: alle Jünger fragen so! Sie alle sind unsicher, ob sie nicht auch zu solch einer Tat fähig wären!
Bin auch ich fähig, eine große Liebe zu verraten, getrieben wohlmöglich durch vermeintlich Wichtigeres, Besseres und Größeres - für irgendeine Sehnsucht oder Idee? Ist etwas von Judas auch in mir? Im Hinblick auf die Geschichte der Kirche und der gesamten Menschheit ist die Frage mit 'Ja' zu beantworten - Kreuzzüge, Verfolgung und Kriege sprechen dafür!
Wie soll ich es aushalten, in die eigenen Abgründe zu sehen?
Ich kann es nur, indem ich noch näher an Judas herangehe - und mit ihm näher zu Jesus. Erstaunt stelle ich fest: Jesus hat seinen Glauben und seine Liebe nicht mit den Lammfrommen geteilt, sondern gerade mit denen, die voller Widersprüche steckten: mit Petrus, der mit seinem Glauben so geprotzt hat und dann doch so zweifelte, mit Thomas, hartnäckig fragt und sucht - und eben mit Judas! Diesem Judas, von dem es dann heißt, er habe sich erhängt - an anderer Stelle im Neuen Testament wird überliefert, er sei bei einem schrecklichen Unfall ums Leben gekommen. Wir wissen es nicht genau!
Hätte auch er wieder Vergebung finden können bei Jesus? Er hat es offensichtlich nicht versucht - das ist für mich das eigentlich Tragische an Judas. Er hat sich selbst aufgegeben, er hat nicht mehr an die große vergebende Liebe Jesu geglaubt, sie nicht mehr für möglich gehalten - nicht für größer gehalten als seine eigenen Abgründe.
In Vezelay, in Burgund, gibt es in der Kathedrale ein Säulenkapitel, eine Plastik, die Jesus zeigt, wie er den toten Judas auf seiner Schulter trägt, wie ein Hirte das verlorene Schaf. Das Bild ist auf den Gottesdienstzettel abgedruckt. Wir wissen nicht, wie Judas vor Gott getreten ist. Wir sind nicht seine Richter!
Was ich aus dieser Darstellung und der Geschichte des Judas für mich festhalte, ist dies:
Wie dunkel auch die Schattenseiten meines eigenen Lebens sind, wie tief die Abgründe auch sein mögen - sie sind nie so dunkel, dass Jesus mich mit seiner Liebe darin nicht mehr erreichen könnte. Sie sind nie so tief, dass Jesus mich mit seiner vergebenden, heilenden Hand nicht erreichen könnte. Ich bin nie und nimmer verraten und verkauft bei diesem Mann aus Nazareth!
Wir können die dunklen Seiten ansehen – ohne die Hoffnung zu verlieren. Wir dürfen an die Liebe Jesu glauben - sie ist allemal größer, herrlicher, tief greifender als wir es uns vorstellen können.
Amen.
R.B.