Text für den Verkündigungsteil der ThomasMesse am 29.10.2006

Im St. Petri Dom zu Bremen

'Tugenden - auf welchen positiven Werte gründet sich unsere Gesellschaft?'

1. Korinther 13,1-3 in der Übersetzung von Martin Luther


(Während der Gebetsphase hatten die Besucher der ThomasMesse die Möglichkeit, das, was sie für eine Tugend halten, auf ein Stück Papier in Blattform aufzuschreiben und dieses Blatt an einen „Tugendbaum“ zu hängen. - Vor der Verkündigung wird das Bäumchen mit den „Tugend“-Blättern auf das Tischchen an den Hauptaltar gestellt, dazu das Standmikrophon)

 

I. „Tödliche Zivilcourage“ und „geiler Geiz“

 

Tödliche Zivilcourage[1]. So titelte der Weserkurier Mitte der Woche –

Ein Mann, so wurde berichtet, der sich in einen Streit zweier anderer eingemischt hatte, um ihn zu schlichten, wurde selbst durch einen Schlag niedergestreckt, der zu seinem Tode führte.

Auch wenn der Wahrheitsgehalt dieses Zeitungsberichtes nicht besonders hoch ist -  was jetzt aber nicht zur Debatte stehen soll - so bleibt doch die Überschrift in mein Gedächtnis eingebrannt:               Tödliche Zivilcourage

 

Zeitungen tragen zur gesellschaftlichen Meinungsbildung bei.

Diese Titelzeile könnte die Meinung stärken, dass es besser sei, sich herauszuhalten.

Zivilcourage könnte gefährlich sein, ja sogar tödlich enden.

 

Diese Meinung wird auch gefestigt durch Sätze wie: Ehrlichkeit lohnt sich nicht.

Vor einigen Tagen sah ich, wie eine junge Frau im Extra-Markt einen 20-€-Schein vom Fußboden aufhob. Jemand hatte ihn verloren. Sie gab ihn bei der Kassiererin ab. Wenige Minuten später kam eine andere Frau mit hochrotem Kopf in den Laden gestürzt, die ihn eben aus dem Portemonnaie verloren hatte. Sie war erleichtert, dass die Finderin ihn nicht für sch behalten hatte, jetzt so knapp vor dem Ende des Monats.

Hat sich für die Finderin die Ehrlichkeit gelohnt – auch ohne Finderlohn?

 

Ein nachdenkenswerter Satz, der ebenfalls zur Meinungsbildung beiträgt, ist der inzwischen sprichwörtliche Slogan von Saturn: Geiz ist geil! –

Nicht nur die Eigensucht wird hier zur Tugend erklärt, sondern auch die Wollust – geil - Mit solchen Parolen wird der rücksichtslose Rückzug auf den eigenen Vorteil

gesellschaftsfähig gemacht.

Und wer hat in der letzten Woche nicht die Breitwand-Reklame von Media-Markt gelesen: Die größte Sauerei des Jahres? -

Sauerei“ oder auch „Schweinerei“ ist ein Symbolwort für Unreinheit und Unkeuschheit. Die Todsünden Genusssucht und Schamlosigkeit wurden früher mit der Abbildung von Schweinen symbolisiert.

Sauerei ist ein Spottwort, das seinen Ursprung in antijüdischer Verunglimpfung hat.[2]

Die Firma Mediamarkt preist uns Die größte Sauerei des Jahres allerdings als etwas Positives an.

 

Ich frage mich: Sind es diese negativen Werte, auf denen wir unser gesellschaftliches Zusammenleben aufbauen? Fast scheint es so, denn schon Zivilcourage als demokratische Tugend steht im Widerstreit zu diesen propagierten Werten. Eigensinn und das individuelle Streben nach Glück lassen eine demokratische Tugend, die am Gemeinwohl orientiert ist, so scheint es, vergessen. Das Bedürfnis, die eigene Haut zu retten, also besser nicht einzugreifen, sich einem Streit nicht zu stellen, nicht hinzusehen und sich keine Zeit zu nehmen, lässt die egoistischen Ziele obsiegen.

Das Gemeinwohl verpflichtet mich, manchmal gegen meine eigenen Interessen zu handeln, und so entsteht ein Dilemma. – Nehme ich den 20-€-Schein mit oder nicht?

 

Ich glaube ja, dass nicht alles stimmt, was die Werbung uns glauben machen will. Und deshalb zweifle ich auch daran, dass wir uns gesellschaftlich allein bestimmen lassen von den Untugenden unserer Zeit:

Hass, Neid, Rücksichtslosigkeit, Arroganz, Intoleranz, Grausamkeit, Gleichgültigkeit[3] oder geilem Geiz.

 

Der katholische Theologe Hans Küng sagt: „Keine Gesellschaft kommt ohne einen minimalen Grundkonsens bezüglich bestimmter Werte, Normen und Haltungen aus“. In seinem Weltethos-Projekt hebt er deshalb auch die positiven Werteverbindungen zwischen den Kulturen der ganzen Erde hervor.[4]

 

II. Tugenden – die Balance zwischen Begierde und Vernunft

 

Was glauben Sie?

Was sind für Sie Tugenden, die positiven Werte, auf die eine Gesellschaft sich gründen kann, auf die ein funktionierendes Gemeinwohl sich aufbauen kann?

 

Sie haben die für Sie wichtigen Tugenden, das Wort meint ja, besonders entwickelte Fähigkeiten des Menschen auf geistigem oder seelischem Gebiet, auf ein Blatt an unserem Tugendbäumchen geschrieben.

Wer nicht von Tugenden spricht oder sprechen will, weil ihm das Wort zu antiquiert vorkommen mag, spricht heute auch gern von Werten.

Werte sind überindividuell, nicht so sehr auf den Einzelnen bezogen als dessen charakterliches Können, sondern als Charakteristika eines Gemeinwesens.

 

Ich bin gespannt, was Sie geschrieben haben. Wir lesen vor und versuchen, eine Struktur zu finden, um vielleicht Zusammenhänge hervor zu heben.

 

(Martha und Ruth kommen zum Altar- Blätter werden vorgelesen… )

 

Fünfundfünfzig (55) „Tugenden“ wurden von den Besucherinnen und Besuchern der ThomasMesse aufgeschrieben.

Nennungen: (An der ersten Stelle dessen, was unter gutem Handeln zu verstehen sei, wird Ehrlichkeit genannt (9 x). Hilfsbereitschaft steht mit 7 Nennungen an 2. Stelle. 6x wird Respekt/Achtung vor den anderen genannt. Dieser Begriff steht an 3. Stelle. Er kommt eigentlich aus dem Weltbild der amerikanischen Indianer, die damit die Achtung vor allem Geschöpflichen meinen, und ist als Amerikanismus „respect“ vor allem in unsere Jugendsubkultur eingewandert und hat unter Jugendlichen einen hohen Stellenwert. Sie möchten respektvoll behandelt werden und sehen sein, dass sie anderen Menschen dieselbe Achtung entgegen bringen müssen.

Des Weiteren wurden genannt:

Mut, Selbstbewusstsein 5x.  Toleranz, Rücksichtnahme, Verständnis 4 x. Zuverlässigkeit, Treue, Verantwortung 4x. Freundlichkeit, Herzlichkeit  3x. Liebe, Nächstenliebe 2x. Mitgefühl 2x. Gerechtigkeit 2x.

Geduld 2x.

Je einmal wurden aufgeschrieben: Bescheidenheit, Demut, Disziplin, Gesundheit, Glauben an Gott, Humor, Vertrauen, Verzeihen können, Zeit haben)

 

Im Wesentlichen  – und das haben wir ja auch bei den von Ihnen aufgeschriebenen Tugenden oder auch positiven Werten gesehen – gründet sich unsere Gesellschaft auf das, was in der griechischen Antike, etwa im 5. vorchristlichen Jahrhundert (bei den Philosophen Sokrates (469-399 v.Chr.), Platon (427-347 v.Chr.) und Aristoteles (384-322)) als Tugenden bezeichnet wurde.

 

Grundsätzlich wird seitdem als höchste Tugend die dauernde Willensrichtung bezeichnet, die uns hilft, die Mitte, die rechte Balance, zu halten zwischen unseren Begierden und unserer Vernunft. So gilt 

Tapferkeit als die Mitte zwischen Feigheit und Verwegenheit,

Mäßigung als Mitte zwischen Genusssucht und Stumpfsinn,

Gerechtigkeit  als Mitte zwischen Egoismus und Altruismus und

Besonnenheit als Mitte zwischen überstürztem Handeln und Tatenlosigkeit.

Als Haupttugend wird von einem Philosophen der Antike (Epikur 341-270 v. Chr.) richtige Abwägung zwischen Lust und Unlust bezeichnet. Das sei der ganz sichere Weg zum Glück[5]

 

Damit ergibt sich eine Antwort auf eine mögliche Frage:

Warum tugendhaft handeln?

Warum sollten wir das Gute tun?

Kann eine Gesellschaft nicht auch funktionieren, wenn jeder nur an sich selber denkt? Dann ist doch auch an alle gedacht, könnte man meinen.

Wenn die Vernunft die Mutter aller Tugenden ist, wie bringt man den Unvernünftigen den Sinn von Gerechtigkeit und Mäßigung, von Tapferkeit und Besonnenheit bei, wenn es doch reicht, Geiz geil sein zu lassen?

Ist tugendhaftes Handeln der Weg zum Glück?

 

III. Die Liebe – Quelle für tugendhaften Wandel und erfülltes Leben

 

Damit komme ich zu der Frage, die uns in der Vorbereitung auf die Messe am meisten beschäftigt hat: Was speist die Tugenden?

Wenn tugendhaftes Leben die Aufforderung enthält, sich nicht mit dem Gegebenen abzufinden, sondern das Optimale für alle zu verwirklichen, was ist dann der Impulsgeber für gute Taten? Was treibt uns, ermutigt uns, verpflichtet uns, immer wieder das Beste zu wollen und es auch in die Tat umzusetzen?

 

Ich gehe noch einmal zu der Anfangssituation zurück. Die junge Frau im Supermarkt. Die mit dem gefundenen 20-€-Schein. Was mag sie bewogen haben, den Schein an der Kasse abzugeben?

Ja, ich konnte sehen, dass sie sich bückte und etwas aufhob, was, konnte ich nicht sehen. Niemand konnte es sehen. Sie hätte das Geld einstecken können, denn wegen der Leute hätte sie es nicht abgeben müssen.

Da sie gleich den Laden verließ und keine Adresse hinterließ, konnte sie auch nicht auf eine Belohnung hoffen. Was also, ließ sie so handeln?

Vielleicht hat sie sich für einen Moment in die Person hineinversetzt, die das Geld verloren hatte. „Was du nicht willst, dass dir die Leute tun, das tue ihnen auch nicht“, sagt das Sprichwort.

Vielleicht hat sie das gedacht. Wenn sie an der Stelle der Verliererin gewesen wäre….

Sie hätte sich auch gefreut, wenn das Geld nicht weg gewesen wäre.

Vielleicht ein Kind. Vielleicht hat ein Kind das Geld verloren. Kriegt jetzt Ärger zu Hause. Oder eine Rentnerin. Der letzte Schein für die letzte Woche im Monat.

Mitgefühl, Mitleid…das mögen Gründe gewesen sein… vielleicht Menschlichkeit, Nächstenliebe, Liebe.

 

Liebe.

 

Wir sind zu dem Schluss gekommen, dass der Impuls für alles gute Handeln aus der Liebe zum Mitmenschen kommt.

Und diese Liebe kommt aus Gott.

Wir haben sie uns nicht erarbeitet.

Wir können sie nicht verdienen.

Diese Liebe ist uns geschenkt. Wir vergessen das manchmal, … oft.

Aber wir können uns daran erinnern.

Und wenn wir uns daran erinnern, wird sie zur Quelle für ein glückliches, will sagen, ein erfülltes Leben.

 

Paulus, der Apostel, hat dazu einige Zeilen aufgeschrieben:

(Annekatrin setzt sich. Petra kommt zum Lespult und liest 1. Korinther 13,1-3 in der Übersetzung von Martin Luther vor)

13 1 Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete und hätte die Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle.

2 Und wenn ich prophetisch reden könnte und wüsste alle Geheimnisse und alle Erkenntnis und hätte allen Glauben, sodass ich Berge versetzen könnte, und hätte die Liebe nicht, so wäre ich nichts.

3 Und wenn ich alle meine Habe den Armen gäbe und ließe meinen Leib verbrennen und hätte die Liebe nicht, so wäre mir's nichts nütze.



[1] Weserkurier Mittwoch, 25.10. 2006 S. 8

[2] vgl. Brockhaus-Artikel, Bd. 19, S. 642, Artikel Schwein; vgl. auch Wikipedia-Artikel „Judensau“, www.wikipedia.org .

 

[3]vgl. GEOWISSEN Nr. 35, S. 152ff: Sieben moderne Todsünden.

 

[4] Artikel: Weltreligionen, Weltethos, Weltfrieden, Bibliographisches Institut & F.A. Brockhaus AG, 2006

[5] Vgl. Friedrich Kirchner, Lexikon philosophischer Grundbegriffe, Tugend (virtus, areté)

 

Annekatrin H.