Text für den Verkündigungsteil der TomasMesse am 28.04.1996

im St. Petri Dom zu Bremen

Aufstehen für das Leben - 10 Jahre Tschernobyl


E.: Was bedeutet uns heute der Name Tschernobyl? Dieser Name der ukrainischen Stadt ist zu einem Symbol geworden. Zu einem Symbol des Größenwahns Dieser Wahn glaubt allen Ernstes, daß jedes technisch Machbare auch bedenkenlos in die Tat umgesetzt werden dürfte.

Mit der Atomkraft‑Nutzung ist in der gesamten Menschheitsentwicklung zum ersten. Mal eine Grenze deutlich überschritten. Zum ersten Mal besteht die ganz realistische Gefahr, daß das Jahrmilliarden alte System des Lebens auf dem Planeten Erde durch den Menschen, der selbst ein Glied dieses Systems, vernichtet wird. Ein hoffnungsvoller stetig aufstrebender Weg würde abrupt beendet.

Dies wäre eine ungeheure Kränkung der Schöpfung, dieser Schöpfung, die getrost als Heilige Schöpfung bezeichnet werden kann. Es wäre eine Kränkung des Schöpfers. Mir kommt es so vor, als ob der Begriff der Gotteslästerung eine ganz neue Aktualität bekommen würde.

H.: ...

E.: Ja, dem kann ich sehr zustimmen! Vor allem die Sache mit dem Staunen kann ich nur voll bekräftigen!

Interessanterweise sind es die modernen, ja ganz nüchternen Naturwissenschaften, die ganz neu wieder das fassungslose, ergriffene Staunen lehren Ich erwähne hier nur die Begriffe "Schwarze Löcher", "Antimaterie", "gekrümmter Weltraum" sowie das Wunderwerk der menschlichen Körperzellen. Und je mehr Einzelheiten an Erkenntnis gewonnen werden, desto mehr neue Rätsel tun sich auf. Und mehr und mehr werden wir dadurch gemahnt, die Schöpfung nicht einfach in verantwortungsloser Weise als großes technisch Warenlager anzusehen.

Zum Thema Erkenntnis gehört ja auch die Fähigkeit des Menschen rechtes und falsches Verhalten unterscheiden zu können, weil er ja nachdenken kann. So erwächst ihm neben der Freiheit des Denkens aber gleichzeitig auch die Last der Verantwortung für die Bewahrung der Schöpfung.

H.: ...

E.: Also, da muß ich Dir doch gleich widersprechen. Natürlich kann ich nachempfinden, daß man zuweilen gegenüber moralischen Appellen eine Aversion hat. Aber ich finde es nicht so gut, diese Aversion laut zu verkünden. Solch lautes Verkünden fördert nur Resignation, Gleichgültigkeit und Apathie.

Vielmehr sollten wir darüber nachdenken, woher diese Aversion komt. Und dann bemerken wir, daß die häufige Vergeblichkeit der notwendigen Appelle zu Überdruß und Frust führt. Aber dadurch werden die Appelle nicht unberechtigt. Vielleicht müssen diese Appelle ja nur immer wieder neu und lebendig formuliert werden.

Und noch ein anderer kleiner Widerspruch sei erlaubt: Das häufige einseitige Überbetonen des individuellen praktischen Tuns und Lassens vernachlässigt die Notwendigkeit des Nachdenkens über gesellschaftliche Zusammenhänge und Entwicklungen, die Notwendigkeit des Gedankenaustauschs, die Notwendigkeit des mutigen und auch öffentliche Position‑Beziehens. Immer im Bewußtsein, daß es um die Bewahrung der Heiligen Schöpfung geht.

E.: Ja, natürlich, Gottvertrauen ist eine gute Sache. Aber ich meine, man muß da zweierlei trennen. Da ist einmal mein persönliches Schicksal, in all seiner vielfachen Begrenztheit und mit allen Nöten und Ängsten. Da bleibt wirklich nur Gottvertrauen übrig, ganz wichtig.

Aber wenn wir an die menschengemachten Gefahren denken, dann halte ich Gottvertrauen für absolut unangebracht. Denn hier würde Gottvertrauen nur ganz leicht zur Untätigkeit und zur Akzeptanz der Gefahren führen.

Wir Menschen haben uns immerhin die Suppe eingebrockt, mit Hilfe des Nachdenkens, und nun müssen wir sie auch auslöffeln, mit Hilfe des immer wieder neuen Nachdenkens, auch wenn es mühsam und anstrengend ist.