Text für den Verkündigungsteil der ThomasMesse am 30.09.2007
Im St. Petri Dom zu Bremen
Psalm 63
Sie kennen das Gemälde vielleicht: ein Mann in altertümlicher Kleidung, mit zerzaustem Haar, steht auf einer Felsklippe, lässig auf einen Stock gestützt, mit dem Rücken zum Betrachter, und schaut hinaus in die Weite. Vor ihm tut sich eine geradezu atemberaubende Szenerie auf – unter ihm und vor ihm liegt ein Meer von Wolken, aus dem vereinzelt schroffe Felsen aufragen. Der Nebel verliert sich erst in der Ferne, wo vor einem blassen Morgenhimmel etwas undeutlich eine hohe Bergkette sichtbar wird. Eine romantische Szenerie – und tatsächlich gilt „Der Wanderer über dem Nebelmeer“, so heißt dieses Bild des Malers Caspar David Friedrich, als eines der bedeutendsten Werke der deutschen Romantik. Sie sehen das Bild übrigens in einer kleinen Schwarzweißkopie auf Ihrem Liedblatt.
Dem Maler Friedrich ging es in seinen Bildern um das, wie er schreibt, „innige geistige Durchdrungensein (…) von der Natur“. Natur war für ihn ein Spiegel menschlicher Empfindungen. Und eine der wichtigsten Empfindungen, die seine Bilder ausdrücken, ist – Sehnsucht. Menschen stehen in einem düster gemalten Vordergrund und schauen weit hinaus in eine lichtvolle, nahezu überirdische Ferne. Nun entstehen menschliche Sehnsüchte nicht nur durch Naturerlebnisse oder Landschaftsgemälde, sie können ebenso angeregt werden durch handfeste weltliche Dinge; etwa durch den Wunsch nach Reichtum oder durch erotische Phantasien. Romantiker wie der Maler Friedrich machen uns aber darauf aufmerksam, dass es mit menschlicher Sehnsucht etwas ganz Besonderes auf sich hat. Der Literaturwissenschaftlicher C.S.Lewis beschreibt es so: „Leute, die darin unerfahren sind, meinen oft, wenn sie das Sehnen fühlen, sie wüssten, wonach sie sehnten. Wenn dieses Sehnen also über einen Jungen kommt, der einen Hügelzug in der Ferne betrachtet, dann denkt er sogleich: `Wäre ich doch dort´... Wenn es kommt (ein wenig später), während er eine `romantische´ Geschichte oder ein Gedicht von `gefährlichen Meeren und verlorenen Feenreichen´ liest, so denkt er, er wünschte sich, dass es solche Orte wirklich gäbe und dass er dorthin gelangen könnte.(...) Wenn es (noch später) im Zusammenhang mit erotischen Vorstellungen kommt, so denkt er, er wünsche sich die vollkommene Geliebte. (Aber) Keines dieser vermeintlichen Objekte des Verlangens kann der Sehnsucht wirklich genügen. Das läßt sich auf einfachste Art ausprobieren: Wenn wir uns aufmachen und zu jenem fernen Hügelzug hin wandern, so werden wir entweder gar nichts erleben oder nur eine Wiederholung jenes Sehnens, das uns dorthin gezogen hat. (...)“ (FaP, S. 265 ff.). Sehnsucht ist also etwas ganz anderes als das Verlangen nach einem konkreten Vergnügen, das sich irgendwie befriedigen lässt. Weil Sehnsucht so schwer zu stillen ist, hat sie etwas Untröstliches, ist sie verbunden mit einer eigenen Art von Schwermut.
Ist das nicht reichlich überspannt, ja geradezu krankhaft, ein solches Gefühl zu pflegen? Kritiker der Romantik sehen das bis heute so. Für den gläubigen Christen Caspar David Friedrich jedoch enthält die Sehnsucht, die die Schönheit der Natur in uns wecken kann, eine unzerstörbare Hoffnung und einen unauslöschlichen Traum. Denn sie weist hinaus und hinüber ins Unendliche, in eine überirdische, göttliche Wirklichkeit, die wir in unserem irdischen Leben nicht erreichen, die wir uns nicht einmal konkret ausmalen können. Dennoch kann sie uns helfen, innerlich auszubrechen aus dem täglichen Hamsterrad von Arbeit und Freizeit, dem Kreislauf von Wunsch und kurzfristiger Befriedigung, in dem wir nur zu oft gefangen sind. Sehnsucht zeigt uns, wenn auch nur schemenhaft, eine andere Wirklichkeit. Sie erinnert uns daran, dass es mehr gibt als unsere alltäglichen Lebensprobleme und Wichtigkeiten. Und wenn wir uns ihr anvertrauen, erleben wir mit einem Mal Momente, die aus dem Grau unseres Alltags herausragen wie die namenlose Bergkette in jenem Gemälde, Ahnungen von fernen Paradiesen erreichen uns und vielleicht auch ein Gefühl für Gottes Nähe.
<Udo K.>
Die unmittelbaren Lebensprobleme sind es aber auch, die
uns dazu bringen können, uns nach außen zu wenden.
Ob bewusst oder nicht – manches Aufstöhnen, mancher Hilferuf
sind Ausdruck einer tieferen Sehnsucht.
Es war vor 4 Wochen am Tag des Offenen Denkmals. Ich hatte
mir die Kirche der Justizvollzugsanstalt in Oslebshausen ausgesucht.
Vom eigentlichen Gefängnis habe ich nicht viel mitbekommen.
Am Eingang: Leibesvisite.
Dann ein langer Weg über ein Gewirr von Gängen und engen
Treppen bis unter das Dach des Hauptgebäudes.
Dort - unter einer Dachschräge – ein Durchgang, und plötzlich
stand ich in einem großen, hohen Kirchsaal.
Eine insgesamt freundliche Atmosphäre empfing mich.
Ich setzte mich in eine Bank, um anzukommen und mich auf
den Raum einzustellen. Ich versuchte mir vorzustellen, wie es hier im Gottesdienst
ist.
Wie kommen die Gefangenen hier an – wie ist Ihnen zumute?
Was bedeutet es für sie, nicht in der Zelle, sondern hier in der Kirche zu sein?
In den Bänken lagen farbige Zettel mit kurzen Texten aus.
„Hinter Gittern beten“ – so stand darüber. Ich las:
Gebet 1: Du, ich möchte dir schon noch sagen...
Diese Worte berühren mich.
Da ist jemand, der einen anderen sucht, um mit ihm zu reden.
Das geschieht auf eine überraschend offene Weise.
Ungeschönt, ohne viel Worte wird der Alltag eines Menschen
hinter Gittern geschildert.
Und hindurch klingt die Sehnsucht danach, dass da jemand
sein möchte, der zuhört und wahrnimmt, was das ist - solch ein Tag im Gefängnis.
„Du“- so beginnt das Gebet. Du - ist das Gott, so wie ich
ihn mir vorstelle? Vielleicht. In jedem Fall: Wer so betet, der öffnet sich und
gibt seiner Sehnsucht Raum. Und wohl jeder von uns würde diesem Beter wünschen,
dass Gott ihn hört, ja erhört.
Beten gehört zum Alltag vieler Menschen. Meist drücken wir
in unseren Gebeten eine Erwartung aus. Gott soll etwas tun: uns innere Ruhe verschaffen,
bei einer schwierigen Aufgabe beistehen, eine Schuld vergeben. In dem Gebet aus
der Haftanstalt kommt das nicht vor. Hier wird nur der Ablauf eines tristen Tages
geschildert.
Vielleicht reicht das schon am Abend eines solchen Tages:
Auszudrücken, was war und – ja, die Sehnsucht zu spüren, die wohl in jedem Menschen
steckt.
Der Kirchenvater Augustinus sagt: „Homo desiderium dei“
– d.h. „der Mensch ist Sehnsucht nach Gott“.
Das gilt wohl auch für diejenigen, die noch gar keinen Namen
gefunden haben für ihren Gott.
Wo ein Gebet nur aus gestammelten Worten besteht oder aus
einem langen Schweigen – ist da nicht schon etwas enthalten von einer Sehnsucht
nach Gott?
„Sucht ihr mich, so findet ihr mich. Wenn ihr von ganzem
Herzen nach mir fragt, lasse ich mich von euch finden“ –
so heißt es beim Propheten Jeremia.
Das kommt uns bekannt vor, denn so haben wir es kennen gelernt:
nur wer sich emsig und ernsthaft bemüht, hat die Chance, zu Gott zu gelangen.
Aber den Satz von Augustinus kann man auch anders lesen.
Dann heißt es: Der Mensch ist die Sehnsucht Gottes. Gott sehnt sich nach uns Menschen.
Gott will zu uns gelangen, uns anrühren und bewegen.
Wenn ich darüber nachsinne, wird mir klar: meine Sehnsucht
bleibt wohl immer unerfüllt. Aber weil ich das in mir trage, eine unendliche und
unerfüllte Sehnsucht, mache ich mich auch immer wieder auf den Weg und suche nach
dem anderen, dem, was noch aussteht.
Und ich tue das in der Ahnung, dass auch Gott sich auf den
Weg macht und mich sucht. Und dass es so etwas geben wird wie ein Sich-finden. Spurenhaft
erfahren wir das schon, wenn wir beten, aber auch dort, wo wir aus dem Alltag aufbrechen,
unseren eigenen Weg gehen, unsere inneren Ansprüche und Wünsche wahrnehmen.
„Du hast uns auf dich hingeschaffen, und ruhelos ist unser
Herz, bis er ruhet in dir“ – so beschreibt Augustinus diese Bewegung in uns.
Ich habe noch ein anderes Gebet in der Kirchenbank entdeckt:
Gebet 2: Meine ersten Gedanken morgens...
Hinter Gittern beten... Das muss kein Selbstgespräch sein.
Offen und selbstkritisch nimmt hier jemand die Verbindung
nach außen auf. Die Kinder, die Frau, er nimmt sie in Blick und stellt sich neben
sie. Schonungslos beleuchtet er ihre Lage und erkennt, was sie auszuhalten haben
– und er ist schuld daran.
„Mein Gott“ – ein Aufschrei, ein Hilferuf.
„Sieh doch, nimm wahr, wie es um uns steht!“
Auch da - Sehnsucht nach Gott. Der Schriftsteller Heinrich
Böll hat es einmal so beschrieben: „Die Sehnsucht ist eine uralte Erinnerung an
etwas, das außerhalb unserer selbst existiert.“ Und er meint, „dass wir eigentlich
alle wissen, dass wir hier auf Erden nicht zuhause sind, dass wir also woanders
hingehören und woanders herkommen.
<Heiner C.>