Text für den Verkündigungsteil der ThomasMesse am 27. Mai 2007
Im St. Petri Dom zu Bremen
Lk. 7, 36-39, 44-47a
Liebe Schwestern und Brüder,
gestern las ich im Weserkurier den Auszug aus einem italienischen Reiseführer für Deutschland: „Einem Deutschen schmatzt man nicht umstandslos rechts und links auf die Wange. Die Hand geben, das lernen in Deutschland schon die kleinen Kinder. Tipp: Dieses Ritual des Nordvolkes schon vor der Reise ein bisschen üben.“(Weserkurier 26.5. Seite R1)
Berührung – das spielt sich zwischen zwei Polen ab:
Zwischen der Sehnsucht nach Berührung und der Angst davor.
Für die Angst davor gibt es sogar ein eigenes Wort: Chiraptophobie. Die Angst, berührt zu werden, wörtlich: die Angst davor, mit der Hand angefasst zu werden. Berührungsangst sagen wir manchmal umgangssprachlich.
Gemeint ist damit die Scheu, etwas anzufassen, oder - auch im übertragenen Sinne - in Berührung zu kommen, ebenso wie die Furcht davor, selbst angefasst zu werden, körperlich oder seelisch.
Übergriffig nennen wir jemanden, der achtlos in unseren Privatraum hineingreift. Dieser Raum ist eine gedachte Glocke, die den Körper jedes Menschen unsichtbar umgibt. In den westlichen Industrienationen ist diese Glocke größer als im nahen oder auch ferneren Osten, im Norden größer als im Süden.
Schon in Italien kommen sich die Menschen näher als z.B. in Deutschland. Körperkontakt, anfassen mit beiden HändenändHänden, ja sogar Umarmungen sind dort selbstverständlicher als bei uns.
Im Umgang mit Fremden achtet man hier darauf, Körperkontakt möglichst zu vermeiden. Im Bus und in der Straßenbahn, im Theater, in der Warteschlange halten wir Abstand. Wer aus Versehen jemanden berührt, entschuldigt sich in der Regel.
Der Eingriff in den privaten Raum eines anderen kann verletzend sein. Besonders wenn der oder die so Angefasste sich nicht gegen einen Übergriff wehren kann wie z.B. ein Kind oder eine Frau, deren Körper nicht geachtet wird. Das ist schlimm.
Die Angst vor Berührung ist oftmals durch böse Erfahrungen begründet.
Wir haben das bei den Überlegungen zu unserer Messe bedacht.
Aber wir wollen heute den Focus auf den anderen Pol richten - auf die Sehnsucht nach Berührung.
Der Wunsch nach körperlichem Kontakt ist angeboren und bleibt zeitlebens: Schon das nackte Neugeborene wird auf den Bauch der Mutter gelegt, um sich zu beruhigen und vom Schrecken der Geburt zu erholen. – Der Mensch, der unruhig auf dem Sterbebett liegt, findet Frieden, wenn seine Hand gefasst wird und jemand ihn hält. Die Sehnsucht nach Berührung hört niemals auf.
Körperkontakt ist wichtig, damit wir nicht verkümmern. Liebevolle Berührung vermittelt Geborgenheit und Vertrauen.
Auf manche Menschen richtet sich eine besondere Sehnsucht: Von ihnen angefasst zu werden oder sie zu berühren, dahin geht das Wünschen und Denken.
Zum Beispiel jugendliche Fans. Sie strecken die Arme nach ihrem Idol aus, weil sie jedenfalls die Hände, die Kleider oder die Haare ihres Stars berühren wollen.
Ein Kleinkind reckt die Arme hoch, um von der Mutter oder dem Vater auf den Arm genommen zu werden.
Wir Erwachsenen breiten die Arme aus, um von jemandem in die Arme geschlossen zu werden oder ihn selbst zu umarmen.
Sehnsucht nach Berührung ist eine Bewegung des Herzens. Sie ist wie ein Strom, der aus der Körpermitte durch die Arme in die Hände fließt und uns für eine zärtliche Berührung zum anderen hin öffnet.
Das Ausbreiten der Arme ist der körperliche Ausdruck für die Sehnsucht nach Liebe.
Es ist das Überquellen der Seele, in dem die Liebe Gestalt gewinnt.
Auch von Jesus wird erzählt, dass Menschen sich danach sehnten, von ihm berührt zu werden oder ihn zu berühren. Sie tun alles Mögliche, um an ihn heranzukommen. Sie decken ein Hausdach ab, um einen Freund nah an ihn heranzubringen, den sie nicht mehr durch die dichte Menschenmenge um ihn herum schieben können, damit er ihn berührt.
Sie schreien, um auf sich aufmerksam zu machen, wie der blinde Bettler Bartimäus; sie fassen seine Tunika an, wie die Frau mit dem Blutfluss, sie tippen an seine Wundmale, wie der Jünger Thomas, der seinem geliebten Freund nahe sein will. Oder sie liebkosen seine Füße, wie die Frau in Bethanien, von der wir jetzt hören …
Lektor:1
Aus dem Lukas-Evangelium:
Ein
Pharisäer lud Jesus zum Essen ein.
Jesus
betrat sein Haus und nahm Platz bei Tisch.
Doch
in der Stadt lebte auch eine Frau mit schlechtem Ruf.
Als sie erfuhr,
dass Jesus bei dem Pharisäer zu Gast war,
nahm
sie ein Fläschchen mit kostbarem Salböl
und
erschien plötzlich am Fußende des Polsters, auf dem Jesus
lag.
Sie
ließ ihre Tränen über Jesu Füße rinnen,
trocknete
sie mit ihrem Haarschopf ab,
küsste
sie zärtlich
und salbte sie mit Öl.
Der
Pharisäer, der Jesus eingeladen hatte, wurde dabei sichtlich
unruhig,
und
er dachte:
“ Wäre Jesus ein Prophet, dann wüsste er,
was das für eine Frau ist,
die
sich an ihn heranmacht, und dass sie einen schlechten Ruf hat.“
Jesus las seine Gedanken und fragte: „Simon, darf ich dir etwas sagen?“
Der Pharisäer antwortete: „Sag es nur, verehrter Lehrer.“ ….
(44)
|Jesus| wies auf die Frau und fuhr fort:
„Sieh dir diese Frau
an!
Ich
kam in dein Haus,
doch
du hast mir kein Wasser für die Reinigung meiner Füße
gereicht.
Diese
Frau aber hat ihre Tränen über meine Füße rinnen
lassen
und
sie mit ihren Haaren abgetrocknet.
Du
hast mir keinen Begrüßungskuss gegeben.
Sie
aber hat, seitdem sie hereingekommen ist,
nicht
aufgehört, mir die Füße zu küssen.
Du
hast meinen Kopf nicht mit Öl gesalbt,
sie
aber hat mit Salböl meine Füße verwöhnt.
Deswegen, das versichere ich dir, sollen ihre vielen Sünden vergeben sein, denn sie hat viel geliebt.“
Jesus sagt zu Simon: Diese Frau hat viel geliebt.
Sie gibt ihrer Liebe durch zärtliche Berührung Ausdruck. Die Liebkosung der Füße Jesu, die feine Pflege seiner Haut mit teurem Salböl, das behutsame Abtrocknen seiner Füße mit ihren offenen Haaren, die Küsse, die Tränen.P>Die Berührung, die diese Frau sich herausnimmt, lässt auch sie nicht ungerührt. Sie fängt sofort an zu weinen. Die Liebe öffnet alle Schleusen.
Wer kennt das nicht: Nach langer Trennung ein Wiedersehen – vielleicht mit den Verwandten, die weit weg wohnen oder mit dem Kind, das nach langer Abwesenheit nach Hause kommt oder des Partners, der trotz des Unfalls plötzlich unversehrt in der Tür steht. Am Krankenbett. Blass und verletzlich liegt der geliebte Mensch in den weißen Laken. Und schon fließen die Tränen.
Bei Beerdigungen. Da sind die Leidtragenden, gefasst bis zur Verabschiedung am Grab, aber bei der ersten Umarmung durch eine Freundin, die ihr Beileid zum Ausdruck bringt, fließen die Tränen. Ein Strom.
Eine körperliche Berührung berührt die Seele. Die Frau in Bethanien hat nicht nur die Füße Jesu angefasst, sie hat ihm auch „ins Herz gelangt“, wie wir sagen. Darüber spricht er mit seinem Gastgeber: „Sie hat viel geliebt“. ER nimmt ihre Berührung als wortlosen Ausdruck ihrer Liebe.
Die zärtliche Berührung langt uns ans Herz, legt unsere Seele offen. Die zärtliche Berührung öffnet, was weich und flüssig in uns ist. Manchmal müssen wir dann weinen. Und gleichzeitig kommt die Angst, dass der Strom der Tränen nicht wieder aufhören könnte. –
Weil wir im Laufe des Lebens gelernt haben, die Tränen zurück zu halten, ist in unserem Inneren inzwischen ein riesen Stausee entstanden.
Jesus sagt: Die Tränen, die Berührung, sind ein Zeichen für Liebe. - Wer könnte es für gut halten, Liebe zurück zu halten? Die Liebe öffnet uns, macht uns verletzlich – und da sitzt ein Stück Angst. Vor allem die Angst, dass unsere Seele Schaden nehmen könnte, deshalb können wir nicht immer zu unseren Gefühlen stehen.
Die Frau in Bethanien, von der Lukas schreibt, hat ihre Angst überwunden. Trotz der Ächtung, die sie durch die Anwesenden spürt, lässt sie ihren Gefühlen freien Lauf. – Und ihr Mut wird belohnt. Sie erfährt Annahme und Liebe von Jesus.
Von einem Dichter unserer Tage gibt es einen schönen Satz: Es ist viel Kälte unter den Menschen, weil wir nicht wagen, uns so herzlich zu geben, wie wir sind (Lothar Zenetti).
Die zärtliche Berührung ist ein Wagnis. Ein Wagnis aus Liebe. Gott ist dieses Wagnis mit uns Menschen eingegangen.
Michelangelo zeigt es mit seiner künstlerischen Interpretation der Schöpfung des Menschen in der sixtinischen Kapelle. Ihr seht es auf dem Gottesdienstblatt. Anders als im biblischen Schöpfungsbericht erweckt in Michelangelos Darstellung Gott den Adam nicht durch einen belebenden Hauch zum Leben, sondern durch eine zärtliche Berührung. Gottes Finger tippt an Adams Finger.
Eine kleine Geste zeigt die überfließende Liebe Gottes. Die Liebe Gottes als Grund und Ursache des Lebens.
Die Geschichte von Jesus und der Frau in Bethanien lässt mich darüber nachdenken, meiner Sehnsucht nach Berührung mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Sie kann helfen, Mut zu fassen und öfter zu sagen: Nimm mich bitte in den Arm oder: Lass dich umarmen.
- Eine zärtliche Berührung kann unserem Leben neue Kraft schenken.
Die Worte Jesu, an Simon gerichtet, sagen darüber hinaus noch etwas anderes: Der Frau, die ihre Liebe zeigen kann, wird viel geschenkt.
Jesus liebt sie, voraussetzungslos, so wie die Liebe Gottes unserem Lieben immer schon vorausgeht. Geliebtsein ist Grundbedingung unseres Lebens.
Wir sind Gottes Geliebte von Anfang an. Weil er sich nach uns gesehnt hat, hat er uns berührt und ins Leben gerufen.
Amen.
Annekatrin H.
1Lukas
7,36-39.44-47a.
Übersetzung: Klaus Berger
und Christiane Nord.
In: Das Neue Testament und
frühchristliche Schriften,
Insel-Verlag. Frankfurt a.
M./ Leipzig, 2005