Text für den Verkündigungsteil der ThomasMesse am 27.05.2001

Im St. Petri Dom zu Bremen

'Nächstenliebe'
'Augen die sehen, Ohren die Hören und ein weites Herz’

Bibeltext: Lk 10, 25-37

U: (Intro - aus dem Publikum)

Halt mal - bevor Ihr hier loslegt: habt Ihr Euch mit dem Thema 'Nächstenliebe' nicht etwas vertan? Das kann ich doch jeden Sonntagmorgen in meiner Kirche hören - und jetzt noch IHR - in der Thomasmesse? Klar stehe ich hinter dieser Forderung - wer denn nicht? (auffordernd , aber nur kurz, ins Publikum) Mal eben melden! Aber die Frage beantwortet mir mal: Wer ist denn mein Nächster?

R:

"Wer ist mein Nächster?" Diese Frage gab es schon einmal. Damals bei Jesus. Wir können es nachlesen im Evangelium nach Lukas im 10. Kapitel.

(Textlesung Lukas 10, 25 - 37)

Ein Schriftgelehrter kommt zu Jesus, also einer, der sich auskennt in den heiligen Schriften des Volkes Israel. Der fragt Jesus: "Was muß ich tun, dass ich das ewige Leben ererbe?" Wenn er nach dem ewigen Leben fragt, dann geht es dabei nicht nur um das Leben nach dem Tod. Wir könnten es vielleicht so übersetzen: Was muß ich tun, um ein Leben zu haben, das diesen Namen verdient - Leben. Ein Leben, das Sinn macht und erfüllt ist, ein Leben, das sich zu leben lohnt, ein Leben, das auch Angst und Not, das dann sogar dem Tod standhält und darüber hinausgeht.

Der Schriftgelehrte - so heißt es - wollte Jesus mit dieser Frage versuchen, ihn aufs Glatteis führen oder einfach damit einmal herausfinden, was dieser Mann aus Nazareth eigentlich zu sagen hat. Vielleicht traute er sich nicht, richtig und offen zu fragen, um sich nicht vor seinen Kollegen zu blamieren. Vielleicht hat er sich doch von Jesus irgendwie angesprochen gefühlt und möchte Kontakt zu ihm aufnehmen.

In jeder Frage, auch in einer vordergründig rhetorischen Frage kann eine echte Frage versteckt sein.

Vielleicht sitzen heute Abend einige hier, die auch erstmal so gucken möchten, was Gott ihnen eigentlich noch zu sagen hat, oder was es denn über die Nächstenliebe zu sagen gibt, ohne dass gleich der moralische Finger erhoben wird. Vielleicht trauen Sie sich hierher, obwohl Ihre Freunde vielleicht mit dem Kopf schütteln würden, wenn sie Sie hier in der Kirche sehen würden. Hier sind Sie richtig! Mit allen Fragen und Zweifeln.

Das Schöne bei Jesus ist in dieser Geschichte, dass er den Schriftgelehrten  so nimmt, wie er da eben kommt. Und damit macht er schon deutlich, wie Nächstenliebe aussieht. Er lacht ihn nicht aus nach dem Motto: "Na, das müsstest du doch wissen, du Schriftgelehrter!" Er macht ihn nicht nieder: "Du weißt das nicht? Du willst mich doch nur in eine Falle locken! Dir antworte ich gar nicht erst!"

Jesus nimmt den Schriftgelehrten ernst und begegnet ihm auf dem Gebiet, auf dem der Gelehrte seine Stärke zeigen kann. Er fragt ihn nach dem Gesetz. "Was steht denn drin im Gesetz zu deiner Frage?" Und darauf antwortet der: "Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Gemüt, und deinen Nächsten wie dich selbst."

Und da kann Jesus nicht anders, als ihm recht zu geben. Schließlich hat er selbst einmal alle Gesetze in diesen beiden Sätzen zusammengefasst. Leben gewinnst Du, indem Du dich Gott zuwendest und dem Nächsten " und nun geh, mach es, probier es aus " eigentlich doch ganz klar - oder?

H:

Aber Moment 'mal - bevor ich mich jetzt zufrieden zurücklehne - alles klar, der Geschichte kann ich nur voll zustimmen, Nächstenliebe ist selbstverständlich angesagt - da lese ich doch noch 'mal genau den Vers 27:

Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Gemüt, und deinen Nächsten wie dich selbst.

Und ich bleibe hängen an den letzten drei Wörtchen »wie dich selbst«.  Das ist ein Akzent, der oft unter den Tisch fällt, gerade bei Menschen, die bewusst und engagiert Nächstenliebe praktizieren.  Ich denke an eine alte liebe Tante von mir, deren oft zitiertes Lebensmotto eine Brunnen-Inschrift war, und die lautete:

So schön und einfach ist mein Leben - geben, immer nur geben.

Jahrelang fand ich das toll und nur nachahmenswert - heute bin ich da sehr skeptisch.  Muss nicht auch, um im Bild zu bleiben, der Brunnen gespeist werden, um sein Wasser verströmen zu können?  Damit ich authentisch und selbstlos geben, weitergeben kann - muss ich nicht zu mir selber freundlich sein, mich wertschätzen und gut für mich sorgen?  Ja, das muss ich - und in den »Exerzitien im Alltag«, an denen ich vor kurzem teilgenommen habe, habe ich begriffen, warum ich liebevoll mit mir selber umgehen kann: weil ich nämlich kostbar bin.  Immer wieder wurden wir in diesen Exerzitien auf unseren Atem aufmerksam gemacht - und ich habe ganz neu und richtig aufgeregt das Wort aus der Schöpfungsgeschichte gehört:

»Gott blies dem Menschen den Odem des Lebens in seine Nase.«

Wenn das so ist, dann ist in jedem meiner Atemzüge Gott mit seinem Geist in mir, wirklich in jedem Atemzug, immer!  Das gibt mir Würde und gleichzeitig die Verpflichtung: mit dem, was Gott so schätzt, dass er selber darin wohnt, nämlich mich, damit muss und will ich liebevoll, achtsam, fürsorglich umgehen.  Ja, ich muss nicht »geben, immer nur geben«, sondern ich darf auch nehmen, indem ich mich selber liebe.

Das »wie dich selbst« des Liebesgebots hat Jesus Christus aber nicht als Aufforderung verstanden, uns selber als Mittelpunkt zu sehen.  Hinter dem »wie dich selbst« steht vielmehr folgende Frage:

Wie würdest du den anderen lieben, wenn dieser andere du selbst wärst?

Jesus Christus lädt uns dazu ein, uns in die Situation des anderen zu versetzen und vom ihm her den Begriff des »Nächsten« zu definieren.  Deshalb beendet er das Erzählen der Geschichte von dem Überfallenen und vom barmherzigen Samariter mit einer Frage.

Jesus möchte vom Schriftgelehrten wissen, wer dem, der unter die Räuber gefallen war, der Nächste gewesen ist.  Damit veranlasst Jesus seinen Gesprächspartner, dessen ich-bezogenen Standpunkt aufzugeben und den Blickwinkel eines hilfebedürftigen Menschen einzunehmen.

Das gilt auch für unsere Zeit: 
Stelle sich ein jeder von uns einmal vor, er oder sie würde Opfer eines gewalttätigen Raubüberfalls werden.
Was würden wir uns von den ersten Zeugen am Tatort erhoffen?
Und wenn wir dann in ein Krankenhaus gebracht worden sind und dort wegen der erlittenen Verletzungen einige Zeit zubringen müssten.
Was für eine Anteilnahme erhoffen wir uns dann von Menschen aus unserem Umfeld?

Dieser Wechsel der Perspektive im Denken und Fühlen ist wohl die Voraussetzung für ein wirklich gutes und nicht nur ein gut gemeintes Handeln im Sinne der Nächstenliebe.

Die Gottebenbildlichkeit des Menschen besteht vielleicht in der Fähigkeit, sich in andere hineinversetzen zu können; und Gott möchte, dass wir von dieser Gabe reichlich Gebrauch machen.

Bezeichnenderweise hilft der Samaritaner jemandem, dem er vorher noch nicht begegnet ist und der sogar einem anderen Volk angehört.  Das veranlasst mich zu einem zweiten Beispiel für die Sichtweise, zu der Jesus uns ermutigt.

Versetzen wir uns einmal in die Lage eines Slumbewohners in einer afrikanischen oder lateinamerikanischen Stadt.  So ganz freiwillig lebt der dort bestimmt nicht.  Möglicherweise ist er bereits im Slum geboren worden.  Wahrscheinlich ist auch, dass er früher auf dem Land lebte und dass das Leben dort für ihn keine Perspektive mehr hatte. 

Was veranlasst in der Landwirtschaft tätige Menschen in Afrika und Lateinamerika ihr Glück in den Städten zu suchen?
Die Antwort auf diese Frage ist vielschichtig und würde den Rahmen der heutigen Verkündigung sprengen.  Festhalten möchte ich jedoch eines:

Es macht einen großen Unterschied, ob wir fragen, warum viele Kleinbauern aufhören, Nahrungsmittel für den regionalen Markt zu produzieren,  oder ob wir fragen, wie sich Volkswirtschaften in der sog. Dritten Welt entwickeln müssen, damit sie für die europäische Wirtschaft als Handelspartner interessant werden.

Jesus von Nazareth würde sagen:  Setzt euch die Brille der Notleidenden und Hungernden auf.

S:

.....

R:

Kann der Schriftgelehrte nun eigentlich noch etwas erwidern? Oder könnte er noch Fragen haben? Davon wird in der Bibel ja nichts erwähnt.

Ist er sprachlos oder überzeugt?

Vielleicht haben Sie, haben wir ja noch eine Frage. Ich habe noch eine - und die lasse ich den Schriftgelehrten auch noch stellen:

"Jesus, du hast ja recht. Es gibt so viele Menschen, denen ich zum Nächsten werden kann. Aber woher nehme ich die Kraft dazu, denn oft überfordert es mich und meine Möglichkeiten!"

Ich könnte mir vorstellen, dass Jesus so antwortet: "Ja, das verstehe ich. Aber es liegt nicht nur daran, dass du dich Gott und dem Nächsten zuwendest. Sei gewiß: Gott wendet sich dir immer wieder zu! Er schenkt dir Kraft, nicht immer im Voraus, nicht immer gleich " aber er lässt dich nicht allein, du findest bei ihm Kraft: in der Stille, im Gebet und oft dadurch, dass seine Boten " Engel in Menschengestalt dich begleiten und dich stützen."

Und ich stelle mir vor, wie der Schriftgelehrte sich aufrechten Ganges und guten Mutes auf den Weg macht.

Renke B., Sabine S., Udo R.,